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Warum Neurowissenschaften?
Was passiert, wenn man Mitglieder des avanciertesten Hirnforschungs-Clusters auf Denker anderer Disziplinen treffen lässt?
Das Gehirn ist ein zukunftsträchtiges wissenschaftliches Objekt, denn es erlaubt sowohl Experimente und Hypothesen in der Grundlagenforschung,als auch klinische Anwendungen und marktnahe Produktentwicklungen. Man sagt, die Menge an Geld, die in diese Forschung fließe, sei nur vergleichbar mit den finanziellen Mitteln, die bereitgestellt wurden, um Kennedys Vision der Mondlandung zu realisieren.
Den Beginn der modernen Neurobiologie markieren die zuckenden Froschschenkel des Luigi Galvani vor zwei Jahrhunderten; bildgebende Verfahren machen erst seit 20 Jahren die dynamischen Veränderungen im Gehirn sichtbar. Trotz dieser relativ kurzen Geschichte ist das Gehirn als Forschungsobjekt zu einem Akkumulations-Apparat für Zeichen, Techniken und Bedeutung geworden und hat sich als Repräsentationsraum etabliert, in dem sich die großen Fragen darstellen und diskutieren lassen: Haben wir einen freien Willen, eine Seele, einen Maschinisten, einen Taktgeber? Werden wir gedacht? Und wenn wir an Gehirn-Maschine-Schnittstellen arbeiten: Wie viel Technik vertragen wir? Können wir uns damit selbst optimieren? Unsere Kindheitsträume von tüchtigen Mensch-Maschine-Wesen erfüllen?
Manch eine fragt sich schon, ob die Neurowissenschaft beansprucht, die neue Sozial- und Verhaltenswissenschaft zu sein, ob sie eschatologische Letztauskünfte bereitstellen kann, ob hier gerade eine neue Universal-Disziplin entsteht – und ob Hirnbilder unsere neuen Selbst- und Menschenbilder sein werden.
Trotz der Vielfalt der Aussagen zu den unterschiedlichen Weltfragen und Fachdisziplinen, die in der Erforschung des Gehirns generiert werden, ist die Sprache der Hirnforschung häufig technizistisch, auch wenn dahinter das Ziel steht, diese Begriffe mit dem Ziel möglichst großer Eindeutigkeit formalisierend einzusetzen. Doch trotzdem: In den Texten wird vernetzt, verschaltet, rückgekoppelt und gesteuert, gesendet, gefeuert, hochgefahren, geladen und abgespeichert. Aber was heißt das für uns, deren Gehirne so funktionieren sollen? Wir müssen die eher simple Arbeitsteilung endgültig hinter uns lassen, die da lautete: Die Naturwissenschaften produzieren harte Fakten und Erkenntnisse und überlassen deren weitere gesellschaftliche Interpretation und Weiterverarbeitung den Kultur- und Geisteswissenschaften. So komplex dieses Organ auch erscheint, müssen wir es nicht hypostasieren. Ein Entzauberungsprogramm gegenüber Symbolproduktion und Bedeutungsüberfrachtung in Bezug auf unsere Gehirne und ihre Leistungen können Geistes- und Neurowissenschaften nur zusammen aufsetzen.
Was passiert nun, wenn man Mitglieder des avanciertesten Hirnforschungs-Clusters auf Denker anderer Disziplinen treffen lässt? In einer eintägigen experimentellen Beobachtungsstation im November 2013 stellten fünf Mitglieder des Exzellenzclusters „BrainLinks-BrainTools“ sowie fünf Forscher_innen anderer Disziplinen einen Gegenstand ihres Interesses vor und machten sich gleichzeitig zum Objekt eines Experiments. Die zehn Forscher_innen, die sich vorher nie begegnet waren, trafen sich zu öffentlichen Filmaufnahmen. Die fünf Dialogpartner diskutieren über Metaphern und Schnittstellenproblematiken zwischen Organismus und Technik im Gehirn.
Wir nannten den Abend “Cerebromatik”. Cerebromatik ist wissenschaftliche Zukunftssprache, 1964 erfunden vom polnischen Autor, Futurologen und Wissenschaftstheoretiker Stanislaw Lem. Er prognostizierte damit eine kognitive Entsprechung zur Prothetik – die technische Ersetzung, Kontrolle und Manipulation der neuronalen Hirnstruktur.
Neben der Videoaufzeichnung, die das Publikum im Sichtungsraum live verfolgen konnte, war es auch möglich, sich als Statist zu beteiligen. Ausgestellt wurden weiterhin Dokumente mit Statements der Wissenschaftler, die im September 2014 gesammelt wurden sowie Bild- und Filmmaterial über die das Gehirn und seine (pop)kulturelle Geschichten, die parallel zu seiner wissenschaftlichen Verobjektivierung erzählt wurden.
Diese Website dokumentiert das von Hannah Hurtzig und Philipp Hochleichter (Mobile Akademie Berlin) im Auftrag des Exzellenzclusters "BrainLinks-BrainTools" ausgerichtete Projekt, welches die Arbeit des Clusters künstlerisch reflektiert.