Dialog "Systemzusammenbrüche"
Dirk Baecker & Cornelius Weiller
In dem erörtert wird, wie bei Systemzusammenbrüchen die Freiheit für das Gehirn zur Notwendigkeit wird, um sich durch Neuverschaltung zu regenerieren, bevor die Redner in einem steten Ringen zwischen Innen- und Außenperspektive auf das Gehirn neben Gedanken zum Spannungsfeld zwischen Eigendynamik als Form der Freiheit und Schwarmverhalten des Menschen zu unterschiedlichen Schlüssen bezüglich des Lügens kommen, das einerseits als Zufallsprodukt des Gehirns, andererseits als Eigenschaft einer Umwelt gesehen wird, welche die Komplexität des Gehirns erst erzwingt.
1. Kapitel: Kant’s zwei Skandale, Wernecke’s zwei Signalwege
05:50 Kommentar zu Kant
Es handelt sich um eine der vielleicht aufregendsten Stellen in Immanuel Kants Kritik der reinen Vernunft. Unter der Überschrift einer transzendentalen Dialektik spricht er hier "von den Ideen überhaupt", führt also in das Zentrum dessen, was dann deutscher Idealismus hieß und immer noch mit einer Philosophie des Idealen verwechselt wird, in Wirklichkeit jedoch die Philosophie eines radikalen, wenn man so will geradezu übermütigen Skeptizismus ist. Von einer Vernunft, so heißt es dort, die in der Lage sei, das empirisch Mannigfaltige auf die Einheit einer Erkenntnis zu bringen, könne nur dort die Rede sein, wo dreierlei Unbedingtheit gesetzt wird: die Unbedingtheit eines kategorialen Subjekts, die Unbedingtheit einer hypothetischen Reihe und die Unbedingtheit einer Aufteilung der Welt in Systeme (B379). Was heißt hier Unbedingtheit? Es heißt, dass es für die entsprechenden Ideen keine guten Gründe gibt außer denen, dass man irgendwo mit der Erkenntnis anfangen muss und jederzeit bereit sein muss, die eigenen Ideen zu korrigieren, das heißt die Freiheit des Subjekts noch einmal anders ins Spiel zu bringen, es mit einer anderen Hypothese zu versuchen und von anderen Systemdifferenzen auszugehen. Wie muss ein Gehirn strukturiert sein, so lautet meine Frage, das in der Lage ist, mit dieser dreierlei Unbedingtheit umzugehen? Genügt es, Komplexität und Plastizität auf der Seite des Gehirns und Semantik, Syntax und Pragmatik auf der Seite der Sprache zu unterstellen, vielleicht noch mit sozialen Komplikationen zu rechnen und alles Weitere der Evolution und dem Zufall zu überlassen, oder kann man den antizipierenden Gedächtnisleitungen des Gehirns selber die Produktion dieser Unbedingtheiten zutrauen?
10:30 Kommentar zu Wernicke/Herder
Die Idee, daß Sprache im Gehirn durch zwei parallel arbeitende Schleifen verarbeitet wird, ist alt. Schon Herman Herder unterschied eine automatische Produktionsroute von einer die Sprache mit "Selbstbewusstsein" verbindet. Auf Carl Wernicke und Lichtheim geht das klassische Diagramm zurück. Hiernach gibt es nur zwei Sprachzentren, das "akustische" (A) und das motorische ("M") in denen jeweils "Spracherinnerungsbilder" bzw. "Sprachwegungsbilder" abgespeichert sind. Sprache entsteht nun durch die Interaktion zwischen beiden. Die direkte Verbindung AM ermöglicht den "Wortbegriff" als sensomotrische Einheit, ist notwendig zum fehlerlosen Sprechen und über diese Route lernen Kinder durch Nachsprechen. Das Verständnis und das Äußern von Gedanken bedarf der anderen Verbindung über die "Konzepte" (B). Beide Wege arbeiten parallel zueinander und so wird Sprache möglich, aber auch das Entstehen von linguistisch begründeten Konzepten.
2. Kapitel: Selbstorganisation, Zusammenbruch, Reorganisation
15:50 Kommentar zur Freiheit
Haben wir Hinweise auf eine gewisse Freiheit im Gehirn, auf die Möglichkeit zu kantschen Setzungen in neuronalen Systemen, die nicht kausal aus vorherigen Impulsen abgeleitet werden können? Es fällt auf, dass wir uns in diesem Gespräch auf zwei Begriffe verlassen, die wir zugleich auf sich beruhen lassen, auf den Begriff der Ökonomie und den Begriff der Kognition. Professor Weiler sagt an einer späteren Stelle zu Recht, er wisse nicht, worum es sich bei Kognition handelt. Zugleich verlässt er sich jedoch darauf, mit ökonomischen Begriffen wie Aufwand, Ertrag, zufriedenstellenden Ergebnissen, Gleichgewicht von Reiz und Reizabfuhr arbeiten zu können, und sei es: kritisch arbeiten zu können. Möglicherweise haben die Begriffe der Ökonomie, Kognition und Freiheit ja mehr miteinander zu tun, als man gemeinhin denkt. Wenn Ökonomie darin besteht, angesichts immer neuer Störungen Fließgleichgewichte (steady states) aufrechtzuerhalten, die sich an der Unterscheidung wünschenswerter Zustände von zu vermeidenden Zuständen orientieren, dann könnte man einen allgemeinen Begriff der Kognition entwickeln, der diese Unterscheidung mit der Pflege eines Reservoirs an Handlungsmöglichkeiten verknüpft, und von Freiheit immer dann spricht, wenn dem zu Vermeidenden etwas Wünschenswertes gegenübergestellt wird. Möglicherweise ist dies eine sehr bürgerliche, sehr dem 18. Jahrhundert entstammende Vorstellung. Aber sie hätte den Vorteil, dass man etwa auf der Spur von Joseph Vogls Überlegungen zur Ökonomie die zivilisatorische Errungenschaft des Gleichgewichtsbegriffs anerkennen würde und vor diesem Hintergrund in der Ökonomie wie in der Neurologie von Freiheit (oder der Möglichkeit von Setzungen) immer dann spricht, wenn Komplexität als Folie einzelner Operationen (Wünsche, Vorstellungen, Zahlungen, Gewinne, Verluste) sowohl anerkannt als auch von Moment zu Moment bewältigt wird. So ähnlich lautete auch bereits der Vorschlag von Paul Feyerabend: Freiheit ist eine Heuristik zur Erkundung von Komplexität. Man kann sich kaum vorstellen, dass diese Heuristik nicht auch ihr neuronales Pendant hat. Und es hätte Charme, bei dieser Gelegenheit den Ökonomiebegriff aufzuwerten und ihn dort einzusetzen, wo es darum geht, die Investition von Freiheit in eine Relation zur Überforderung durch Komplexität zu setzen.
16:16 Kommentar zu Hughlin Jackson
Hughlin Jackson hat Ende des 19. Jahrhunderts drei Ebenen der Hierarchie im Gehirn beschrieben: Kleinhirn - Stammganglien - Großhirnrinde. In allen dreien ist z.B. Motorik "repräsentiert", alle drei seriell und parallel geschaltet. Ausfall der Stammganglien führt zum Parkinsonsyndrom, Kompensation ist möglich über die Großhirnrinde. Ausfall der Großhirnrinde entsteht z.B. durch Schlaganfall, Stand und Gang können weiter über das Kleinhirn "geleistet" werden.
17:00 Zum Begriff der Plastizität
Funktion entsteht durch kontextabhängige Interaktion innerhalb eines weit verzweigten u.U. beide Hirnhälften betreffenden Netzwerkes. Bei einer Schädigung gibt es kein "Recovery-areal", sondern die verbleibende Teile des Netzes reorganisieren sich, es kommt zu einer Rekoordination innerhalb der verbliebenen Teile. Dabei können primäre Hirnareale am schlechtesten kompensiert werden. Nach einem initialen "Schock", in dem das ganze Netzwerk in seiner Funktion beeinträchtigt ist, auch die Gebiete, die eigentlich gar nicht geschädigt sind, kommt es einer Erholung von diesem Schock und dann zu einer Überaktivierung bevor im besten Falle, u.U,. erst nach Monaten eine langsame Normalisierung eintritt.